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Ex-Berufsspieler Sourounis über Roulette


Ludo

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Im Kasino kann man Demut lernen

Der Autor Antonis Sourounis über Roulette und die größte griechische Schwäche: Literatur.

In diesem Jahr ist Griechenland Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse, das am Rand Europas liegt. Manchmal sieht man vom Rand aus mehr als vom Zentrum. Ein Beispiel dafür ist auch Antonis Sourounis, der 1942 in Thessaloniki geboren wurde und als Jugendlicher nach Deutschland auswanderte. Er war Hotelpage, Berufsroulettespieler, Bankangestellter, Seemann; manche haben ihn mit Jack London verglichen. Jetzt ist bei Piper sein Roman Der Rosenball erschienen, der im Milieu von Berufsspielern angesiedelt ist. Hannes Stein hat in Athen mit Sourounis gesprochen.

DIE WELT: Wo waren Sie am 11. September?

Antonis Sourounis: Zu Hause. Ich wachte um 20 nach vier von meinem Mittagsschlaf auf und legte eine Videokassette in meinen Recorder: "Nacht in Manhattan". Dann schaltete ich den Fernseher an, sah das taghelle New York und die brennenden Hochhäuser und dachte: Das ist doch nicht mein Film. Falsche Kassette.

DIE WELT: Man sagt, viele Leute in Athen hätten bei diesen Bildern heimlich gedacht: Die Amerikaner haben das verdient.

Sourounis: Kein Mensch verdient so etwas. Ich habe große Angst. Wie glücklich war unsere Generation, weil sie keinen Krieg kannte. Wissen Sie, mein Vater stammte aus Smyrna in Kleinasien; sein Vater ist von den Türken umgebracht worden, und er musste mit sieben Jahren nach Griechenland flüchten. Dann wurde er in den Krieg geschickt, später kämpfte er im Bürgerkrieg.

DIE WELT: Haben Sie sich jemals für Politik interessiert?

Sourounis: Nein. Nie.

DIE WELT: Wo waren Sie in der Zeit der Obristendiktatur, 1967?

Sourounis: Soldat. Ich war oben an der bulgarischen Grenze, als der Putsch passierte. Danach konnte ich nicht mehr in Griechenland leben. Es war die Hölle.

DIE WELT: Haben Sie alles, was Sie beschreiben, selbst erlebt?

Sourounis: Aber ja. In einem meiner Romane erzähle ich zum Beispiel, wie ich als kleiner Junge meinen Vater umbrachte. Ein Journalist sagte zu mir: Aber Sie haben Ihren Vater doch gar nicht ermordet? Ich antwortete: Doch, habe ich. Viele Male.

DIE WELT: Was gefällt Ihnen an Deutschland am besten?

Sourounis: Die Kasinos. Weil sie wie Kirchen sind. Die Angestellten tragen dunkle Anzüge, und alles ist ganz ruhig.

DIE WELT: Was macht beim Spielen den Reiz aus?

Sourounis: Wenn du beim Roulette auf eine Zahl gesetzt hast, und du siehst die kleine weiße Kugel in deiner Zahl, und die Roulettemaschine fängt an, sich langsamer zu drehen, dann ist diese Roulettemaschine wie die Erde. Und du glaubst, dass du ein kleiner Gott bist, und du tanzt mit der Erde und gibst ihr den Rhythmus vor. Am Tag danach kannst du alles kaufen und wunderst dich, wie billig die Sachen plötzlich sind: ein Anzug, ein Kleid für deine Frau.

DIE WELT: Und wenn man verliert?

Sourounis: Man wünscht sich, dass es nie mehr Morgen wird. Du versteckst dich unter der Decke und willst deine Augen nie wieder aufmachen. Wenn du die Jacke siehst, die du bei der Katastrophe anhattest, willst du sie nie wieder anziehen. Du hasst deine Kleider, du hasst dich selbst.

DIE WELT: Trotzdem spielt man immer weiter?

Sourounis: Das Kasino ist wie eine große Schule. Du lernst dort in einer Nacht, wozu du in der Welt draußen Jahre brauchst. Die Roulettemaschine dreht sich bei einem Spiel ungefähr 365 Mal - genau wie die Erde in einem Jahr! Das Kasino bringt dir bei, wie sanft, wie gutmütig du sein musst. Im Kasino kann man Demut lernen.

DIE WELT: Ist Spielen besser als Sex?

Sourounis: Wer so etwas behauptet, kann sich gleich umbringen. Übrigens sage ich nicht "Sex", hier in Griechenland gibt es das Wort "Erotes". Der Unterschied ist: "Erotes" kann man nur mit der Frau machen, die man liebt - bei der man jeden kleinen Teil ihres Körpers liebt. "Erotes" ist das einzige Medikament, das hilft, wenn man beim Spielen verloren hat.

DIE WELT: Könnten Sie woanders als hier leben?

Sourounis: Ja, aber ich habe noch nie ein Wort außerhalb von Griechenland geschrieben. Griechenland ist voller Schwäche, wie ein Mensch, der Hilfe braucht. Das gefällt mir.

DIE WELT: Was ist die größte griechische Schwäche?

Sourounis: Philotimo.

DIE WELT: Wie bitte?

Sourounis: Das Wort ist unübersetzbar. Philotimo heißt, dass man schrecklich leicht beleidigt ist und zugleich Freundschaft sehr ernst nimmt. Nehmen wir zwei Leute, die ins Restaurant gehen. Einer sagt zum anderen: Du bist mein Gast, ich zahle - und der antwortet: Nein, ich zahle. Und daraus entsteht dann ein Streit. Es hat Fälle gegeben, wo ein Grieche seinen besten Freund umgebracht hat über die Frage, wer wen bezahlen lässt. Das nennt man philotimo, ein wunderbares Wort. Philotimo ist unsere größte Schwäche. Und unsere größte Tugend.

DIE WELT: Heute leben viele Albaner in Griechenland. Was denken Sie, wenn Sie sie sehen?

Sourounis: Ich erinnere mich, wie wir damals als Gastarbeiter in Deutschland ankamen: mager, abgezehrt. Die Deutschen waren alle groß, dick, mit rosiger Gesichtsfarbe, sie kamen uns wirklich vor wie Wesen von einem anderen Stern. In meiner Erinnerung sitzen die Deutschen immer auf einem Sofa und sehen fern. Heute sind die Albaner so wie wir damals, genauso mager. Heute sitzen wir Griechen auf dem Sofa und sehen fern.

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