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GLÜCKSSPIEL in Russland


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Putin will Glücksspiel-Ghettos schaffen

Rußlands Präsident hat ein Gesetzentwurf eingebracht, der für Zehntausende kleiner Spielhallen das Ende bedeutet. Die verbleibenden Casinos sollen dann 2009 in vier Reservate übersiedeln. Zuvor sind sieben Gesetzesanläufe an der Glücksspiellobby gescheitert. Doch diesmal könnte es anders kommen.

Von Jens Hartmann

Der Henker trägt Handschuhe. Sein Beil saust nieder und trifft den Arm des Banditen. Glassplitter fliegen, rote Kabel baumeln. Der einarmige Bandit ist exekutiert. "Nieder mit dem Glücksspiel", skandieren Jugendliche der kremlnahen Organisation "Mestnije" ("Die Örtlichen"), die in der Kleinstadt Reutow bei Moskau diese "Öffentliche Hinrichtung" exerzieren. Kaum hat der Henker seine Arbeit getan, fliegen Eier gegen die Fensterfront des Spielsalons "Bacchus", der als Kulisse für diese "Öffentliche Hinrichtung" dient. Der Besitzer des "Bacchus" lässt sich an diesem Tag nicht blicken.

Von "Gefährdung der Volksgesundheit" ist in Russland die Rede, wenn es um die Glücksspielindustrie geht. Mit seinen 350.000 Spielautomaten, seinen 4000 Spieltischen und 169 Kasinos ist Russland einer der größten Glücksspielmärkte der Welt. In diesem Jahr setzt die Branche 5,5 bis 6 Mrd. Dollar um. Im kommenden Jahr sollen es sieben Mrd. Dollar sein.

Russlands Präsident Wladimir Putin brachte einen Gesetzentwurf mit dem Titel "Über die staatliche Regulierung der Tätigkeit bei der Organisation und Durchführung von Glücksspielen" ein. Das Gesetzespaket sieht vor, dass Zehntausende kleine Spielhallen bis zum 1. Juli 2007 schließen. Vom 1. Juli 2009 an sollen dann alle Kasinos und Spielhallen in vier Reservate übersiedeln: die Glücksspielghettos sollen im Gebiet Kaliningrad, im Gebiet Rostow/Krasnodar in Südrussland, im sibirischen Altaj-Gebiet und im Primorje-Gebiet im Fernen Osten entstehen.

Die Staatsduma nahm in erster Lesung Putins Entwurf an - sieben vorherige Gesetzesanläufe waren an der Glücksspiellobby im Parlament gescheitert.

Ein Kasino muss demnach mindestens über 800 Quadratmeter, zehn Spieltische und 50 Automaten verfügen. Das wird eine umfassende Marktbereinigung zur Folge haben. Die Bevölkerung sieht der Präsident hinter sich. 65 Prozent unterstützen seine Idee, Glücksspiel-Ghettos zu schaffen, nur 18 Prozent sind dagegen.

Russland ist seit jeher eine Nation der Glücksspieler. Ihr bekanntester Vertreter ist der Schriftsteller Fjodor Dostojewski, ein krankhafter Spieler, der sogar Geld, das aus der Verpfändung von Kleidern seiner Frau stammte, verzockte. In seinem Roman "Der Spieler", der in dem fiktiven Kurort "Roulettenburg" handelt, setzt er den vom Glücksspiel Abhängigen ein literarisches Denkmal. Sein Ururenkel klagte im vergangenen Jahr gegen die landesweite Sportlotterie, die mit dem Konterfei des Schriftstellers um Kunden warb. Dostojewski sei ein unheilbar Spielsüchtiger gewesen, das Werben mit ihm unstatthaft.

Schulebino, eine der unzähligen Moskauer Schlafstädte. Larissa Michailowna bekreuzigt sich, küsst ihre Fünf-Rubel-Münze (umgerechnet 15 Cent) und wirft sie in den Schlitz. Das Ritual soll helfen, den Automaten zu besiegen. Wenn alle drei Rollen auf "7" stoppen, gewinnt die Rentnerin. Larissa Michailowna steht auf der Straße und spielt an der quadratischen Säule zeitgleich mit drei anderen Zockern. Sie gehört zu den fünf Prozent der Bevölkerung, die an Spielsucht leiden.

Während der einarmige Bandit 1899 in den USA erfunden wurde, kann Russland im Jahr 2001 die Erfindung des sogenannten "Stolbik" ("kleiner Pfosten") für sich reklamieren. Diese mannshohe viereckige Spielsäule nimmt weniger als einen Quadratmeter ein und schluckt Fünf-Rubel-Münzen im Sekundentakt. Der Clou: Auf engstem Raum spielen zugleich vier Personen. Die "Stolbiki" stehen in Apotheken, Bäckereien, Supermärkten, Bahnhöfen, U-Bahn-Schächten, auf der Straße. Sie sind der Fluch der kleinen Leute.

"Glücksspiel ist wie die Alkoholisierung der Bevölkerung", sagt Putin, der nicht trinkt und höchstens einmal bei dem nach ihm benannten Pferderennen "Cup des Präsidenten" auf Sieg setzt. Grelle Lichterketten, davor Sportwagen in bonbonfarbene Schleifen eingewickelt: Wenn sich Putin spätabends vom Kreml zu seiner Residenz im Westen Moskaus chauffieren lässt, sieht er die funkelnden Lichter der Großstadt. Genauer: die Lichter des Neuen Arbat, Russlands Straße der Kasinos. Selbst Namen wie den des "Mirage" haben sich die Russen von Las Vegas geliehen.

Bis die Glücksspieler in ihre Reservate ziehen, ist Moskau die Hauptstadt des Glücksspiels. 56 Kasinos, dazu 2000 Spielhallen mit insgesamt 60.000 bis 100.000 Automaten befinden sich auf Stadtgebiet. Die Zahl der Kasinos ist nur in Las Vegas (124) und in Miami (74) höher. Für den Wildwuchs auf dem Glücksspielmarkt ist die Föderale Agentur für Körperkultur und Sport verantwortlich. Die Agentur des früheren Eishockey-Olympiasiegers Wjatscheslaw Fetisow, der als Putin-Vertrauter gilt, verteilt seit 2002 die Lizenzen für den Spielbetrieb. Seitdem erhält so gut wie jeder eine Lizenz, die mit allen Gebühren 3000 Rubel (90 Euro) kostet. Der niedrige Preis und die Aussicht auf gewaltige Gewinne haben dazu geführt, dass es 6300 staatlich registrierte Glücksspiel-Unternehmer gibt.

Die Lizenzen sind für einen Investor eine Erlaubnis zum Gelddrucken - falls es ihm gelingt, sich mit der Stadtverwaltung über Räume und mit der Miliz und Mafia über den Schutz zu einigen. Ein durchschnittlicher Spielsalon stellt 40 Spielautomaten auf einer Fläche von 120 Quadratmetern. 500 000 Dollar kostet die Eröffnung des Salons, davon fließen 350 000 Dollar in die Ausrüstung. In ein bis eineinhalb Jahren hat der Geldgeber seine Investition amortisiert. Ein Spielautomat bringt 1000 bis 2000 Dollar pro Monat (vor Steuern), ein "Stolbik" auf der Straße 500 bis 700 Dollar. Der russische Staat wird in diesem Jahr rund 29 Mrd. Rubel (1,1 Mrd. Dollar) an Steuern durch das Glücksspiel einnehmen.

Oleg Bojko sitzt im Rollstuhl, seitdem er vor zehn Jahren im Spielerparadies Monte Carlo aus dem Fenster stürzte. Bojko ist trotzdem Gast auf Moskauer Promi-Feten wie der des Journals Playboy. Umringt von hübschen Frauen, spreizt er die Finger zum Victory-Zeichen. Er ist der Zar der Automaten. Bojko, 42, ist leidenschaftlicher Kartenspieler und hauptberuflich Präsident der Ritzio Entertainment Group. Der größte Glücksspielkonzern in Osteuropa machte 2005 mit seinen sieben Kasinos und 40 000 Spielautomaten einen Umsatz von 697 Mio. Dollar (2004: Umsatz: 325 Mio. Dollar).

Bojko ist ein bunter Vogel. Ende der achtziger Jahre verdiente er seine ersten Millionen mit Software. Anfang der 90er Jahre war er das Wunderkind der russischen Wirtschaft, finanzierte die Demokraten, hatte in "Nationalnij Kredit" eine eigene Bank, verdiente mit seinem Konzern OLBI (Oleg Bojko Invest) ein Vermögen. Mitte der neunziger Jahre wurde es still um ihn.

Erst vor zwei Jahren outete er sich als Eigentümer der Ritzio Entertainment Group, seit Sommer ist er für das operative Geschäft zuständig. Heute führt ihn Forbes mit einem Vermögen von 1,2 Mrd. Dollar auf Rang 37 der russischen Geldrangliste. Bojko will die Ritzio Entertainment Group ("Wir bringen Menschen verschiedener sozialer Schichten Freude") an die Londoner Börse führen. Seit dem Chaos in der Branche sind jedoch die Börsenpläne in der Schublade verschwunden. Bojko hofft auf die Zukunft: "In einem Jahr, wenn sich der Rauch gelegt hat, wird sich herausstellen, dass das Kalb weiter kräftig gewachsen ist."

Tatsächlich gehen die meisten Branchenkenner davon aus, dass die Branchengrößen Ritzio, Jackpot und Storm International von dem Gesetz profitieren werden. "Die drei werden zu Monopolisten", sagt Ewgeni Koftun von der "Assoziation der im Glücksspielgeschäft Tätigen". Ganz sicher scheint sich Bojko nicht zu sein. Er hat vorsichtshalber Kasinos in Osteuropa, Mexiko, Bolivien, Peru und Brasilien erstanden.

Gegenwärtig lässt ein Spieler im Durchschnitt nur 30 Euro pro Spielhallen- oder Kasinobesuch. Er spielt bei sich um die Ecke. "Eine Reise in ein fernes Spielerparadies wäre vielen zu aufwendig und zu teuer. Sollte das Glücksspiel in den Städten verboten werden, entstehen eben überall illegale Spielhöllen", sagt Lobbyist Koftun. Die Wohlhabenden unter den Spielern werde es ins Ausland ziehen. "Schließlich ist es einfacher, nach Monte Carlo zu fliegen".

Artikel erschienen am 20.12.2006

WELT.de 1995 - 2006

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